Ein Eisbärtraum


Am Nordpol, an einem Ort, wo es immer bitterkalt ist und wo es nur Eis und Schnee gibt,
lebte einmal ein Eisbär.
Vor langer Zeit schon hatte er seine Eltern verlassen
und führte für sich allein ein ruhiges und zufriedenes Leben
im ewigen Eis.
Eines Tages jedoch spürte er tief in seinem Innern
eine ungewohnte Kälte,
vor der ihn sein Eisbärfell nicht schützen konnte.
Es schien ihm, als ob er etwas Wichtiges vermißte,
obwohl er eigentlich nicht genau sagen konnte, was ihm denn fehlte.

Er fühlte ein leichtes, unbestimmtes
Schmerzen in seinem Herzen,
doch als Eisbär war er dazu erzogenworden,
seine Schmerzen ohne Klagen und Jammern
zu ertragen und seine Gefühle zu verbergen.
Aber von Tag zu Tag wurde dieser Schmerz,
eine Sehnsucht nach etwas, was er nicht genau beschreiben konnte,
immer stärker, und er versuchte sich daran zu erinnern,
ob seine Mutter oder sein Vater ihm einmal etwas
über solch einen Schmerz erzählt hatten.
Obwohl er jedoch oft und lange darüber nachdachte,
fiel ihm nichts ein.

Eines Nachts träumte er davon,
wie seine Mutter ihm früher einmal vor dem Einschlafen von einem fremden Land erzählte.
"Dieses Land liegt tief im Süden", hörte er seine Mutter sagen.
"Dort scheint immer die Sonne, es ist immer warm und die Tiere brauchen kein so dickes Fell wie wir.
Es gibt dort Bäume, die höher sind als die größten Eisbären,
es gibt grüne Wiesen, Blumen in allen Farben, rot, blau, gelb, lila und orange.
Die blühenden Blumen sind so schön, daß sich alle Tiere freuen und glücklich sind."
Der Eisbär fragte darauf seine Mutter, was denn das für Farben seien,
da er nur das Weiß des ewigen Eises und das Blau des Himmels kannte.

Doch seine Mutter antwortete:
"Ich habe dieses Land und auch diese Farben nie selbst gesehen".
Diese Geschichte hat mir meine Mutter erzählt, so wie ich sie dir jetzt erzähle.
Sie wird seit Generationen von den Eltern an die Kinder weitergegeben,
aber keiner weiß mehr genau, wer einmal in dem Land war.

Als der Eisbär am nächsten Morgen erwachte, stand sein Entschluß fest:
Er wollte nach Süden wandern und dieses Land suchen,
in dem es immer warm ist und alle Tiere glücklich sind.
Dort würde er bestimmt diese Kälte in ihm und seinen Schmerz vergessen können.
Da er gelernt hatte, wie man am Stand der Sonne
die Himmelsrichtungen bestimmen kann, marschierte er los nach Süden.
Der Eisbär wanderte Tag um Tag, Woche um Woche.
Nach langer Zeit bemerkte er dann,
wie die Eis- und Schneedecke immer dünner wurde,
und manchmal fand er sogar freie Stellen im Schnee,
aus denen Gras und kleine Sträucher hervorlugten.
Auch glaubte er zu spüren, daß die Sonne immer stärker und wärmer wurde.
Aber tief in seinem Innern konnte diese Wärme trotzdem nicht durchdringen,
er spürte noch immer eine Eiseskälte um sein Herz,
die die Sonne nicht auftauen konnte.
Je weiter der Eisbär nach Süden vordrang,
umso größer wurden die freien Stellen im Schnee.

Dann sah er eines Tages in der Ferne ein helles, buntes Leuchten.
"Das muß eine der blühenden Blumen sein, von denen meine Mutter erzählt hat!"
rief er aufgeregt aus.
Voller Spannung und Ungeduld ging er immer schneller,
bis er schließlich anfing zu rennen,
da seine ganzen Hoffnungen und Erwartungen
mit einem Mal in ihm emporstiegen.
Während er sich der gelborange leuchtenden Stelle näherte,
erkannte er plötzlich zwei Menschen,die um sie herumsaßen.
Während er im Laufen noch überlegte, was er nun tun sollte, sah er,
wie die Menschen bemerkten,
daß da ein Eisbär auf sie zugerannt kam.
In Panik stürzten sie in ihren Wagen und fuhren,
so schnell sie konnten, davon.
Der Eisbär versuchte erst gar nicht,
über das seltsame Verhalten der Menschen nachzudenken.
Er hatte ja nichts Böses im Sinn,
und seine Eltern hatten ihn schon immer vor den Menschen gewarnt,
weil sie sie für völlig verrückt und unberechenbar hielten.

Er spürte, wie sich auf einmal in seinem Innern,
in seinem Herzen etwas zu lösen begann,
und fing an, ihr seine ganze Geschichte zu erzählen.
Während der Eisbär sprach, war er sich der ganzen Zeit der echten,
ungeteilten Aufmerksamkeit der Eisbärin bewußt,
er fühlte, wie sein Herz leichter wurde,
wie ihm eine Last genommen wurde, wie sein Tränenstrom schließlich versiegte.
Als er schließlich mit seiner Geschichte zum Ende gekommen war,
blickte er die Eisbärin verwirrt an. Was tat sie nur mit ihm?
Da sah sie ihn ebenfalls an und sagte:
"Ich kenne diese Kälte des Herzens, von der du sprichst,
denn auch ich bin vor ihr weggelaufen.
Wie du habe ich nach Wärme gesucht und konnte sie nicht finden.
Du hast geglaubt, du wärst am Ziel, als du das Feuer gefunden hattest,
doch wir brauchen kein Feuer, das uns wärmt,
wir haben dafür unser dichtes, dickes Fell.
Was du brauchst, was ich brauche, was alle Eisbären brauchen,
ist die Wärme des Herzens,
und die kann man nur in einem anderen und in sich selbst finden.

Nachdem sie dies gesagt hatte, sah sie ihn schweigend an, und ihm schien,
als könne sie bis auf den Grund seiner Seele blicken.
Dieser tiefe, zärtliche Blick ließ ihn alle seine Schmerzen vergessen, und er begann nun zu verstehen.
Er sah in ihren Augen, daß er endlich gefunden hatte, wonach er so lange gesucht hatte,
daß er endlich an seinem Ziel angekommen war, nachdem er so lange vergeblich gewandert war.
Die Eisbärin umarmte den Eisbären, und er umarmte sie.
Er spürte ihre Wärme, die sie ihm gab, die Kälte wich aus seinem Inneren,
das Eis um sein Herz schmolz,
und er spürte seine Wärme, die er ihr gab.
Noch lange hielten sich die beiden in ihren Armen und fühlten ihre Liebe.